Regina • 2. Dezember 2024

You are worthy of love! - Der Einfluss von Selbstmitgefühl auf die seelische Gesundheit

"Ich habe mich noch nie besonders gemocht." ...

Sagt die Frau, die mir gegenübersitzt. Gepflegt und gut gekleidet, äußerst attraktiv, wirkt sie auf den ersten Blick sehr souverän. Eine Dame von Welt, möchte man meinen. Sie ist geschieden, Mutter einer erwachsenen Tochter, die ihr alles bedeutet, finanziell sehr gut gestellt. Oberflächlich betrachtet scheint ihr Leben in Ordnung zu sein. Aber natürlich gibt es einen Grund, warum sie in meiner Praxis sitzt. Der Grund ist ein massives Alkoholproblem, das ihre Leber inzwischen irreparabel geschädigt hat. Zuvor im Gespräch habe ich sie gefragt, welche Eigenschaften sie an sich schätzt. Gesellig, lustig, hilfsbereit sind die Adjektive, die fallen. Doch mir fällt auf, dass sie sich ausschließlich aus der Sicht anderer beschreibt. Meine Freunde sagen... oder meine Kollegen finden... . Auf die Frage "Wie sehen Sie sich denn selbst? Was gefällt Ihnen an sich?" kommt die obige Antwort. Sie sieht sich nicht wirklich positiv. Und sie möchte auch nicht weiter darüber sprechen. Das Gespräch wird ihr sichtlich unangenehm und kurz darauf äußert sie den Wunsch zu gehen. Offensichtlich habe ich einen Nerv getroffen. 




You are worthy of love!


Ein Satz, den ich manchmal meinen Patient*innen zurufen möchte. Der Mangel an Selbstliebe und Mitgefühl für sich selbst ist bei vielen Suchtkranken zu finden. Meiner Meinung nach ist dies ein Aspekt, der es vielen Menschen so schwer macht, ihre Sucht zu überwinden. Sie behindert auch die Behandlung vieler anderer psychischer Erkrankungen. 



Die Self-Compassion Theorie


Die Self-Compassion Therorie wurde von der amerikanischen Psychologin Kristin Neff definiert und erstmals systematisch beschrieben. Selbstmitgefühl (self-compassion) beschreibt eine Haltung der wohlwollenden Zuwendung zu sich selbst, insbesondere in Momenten des Leidens, des Versagens und der Unzulänglichkeit. Die Theorie basiert auf der Idee, dass Menschen ihren eigenen Schmerzen und Fehlern mit Freundlichkeit und Verständnis begegnen sollten, anstatt sich selbst zu kritisieren oder zu verurteilen.



Selbstmitgefühl: Ein Weg zu Verständnis und Heilung


Stellt euch vor, ihr habt bei der Arbeit einen großen Fehler gemacht. Die erste Reaktion ist vielleicht, sich selbst zu verurteilen: „Wie konnte ich nur so dumm sein?“ oder „Das wird nie wieder gut!“. Dieses Muster ist uns allen vertraut - wir sind oft die härtesten Kritiker unserer selbst. Genau hier setzt das Konzept des Selbstmitgefühls an, das die Psychologin Kristin Neff als Gegenentwurf zur Selbstkritik entwickelt hat.


Selbstmitgefühl bedeutet, sich selbst in schwierigen Momenten so zu behandeln, wie man eine gute Freundin behandeln würde: freundlich, verständnisvoll und geduldig. Neff beschreibt Selbstmitgefühl als eine Haltung, die aus drei zentralen Elementen besteht: Selbstfreundlichkeit, Mitmenschlichkeit und Achtsamkeit. Doch was genau bedeutet das in der Praxis und warum spielt Selbstmitgefühl gerade in Krisensituationen wie Sucht oder emotionalem Stress eine so wichtige Rolle?



Was Selbstmitgefühl ist - und warum es uns hilft


Ein einfaches Beispiel: Anna, eine alleinerziehende Mutter, fühlt sich oft schuldig. Wenn sie nach einem anstrengenden Tag vor Erschöpfung laut wird, geht sie hart mit sich ins Gericht: „Ich bin eine schlechte Mutter.“ Statt in Selbstvorwürfen zu versinken, könnte sie aber versuchen, sich selbst zu bemitleiden: „Es war ein langer Tag und ich habe mein Bestes gegeben. Fehler machen ist menschlich.“ Dieser Perspektivwechsel schafft Raum für Vergebung und stärkt gleichzeitig die Fähigkeit, belastende Emotionen zu regulieren.


Genau diese Verbindung zur eigenen Menschlichkeit ist ein Kernstück der Theorie des Selbstmitgefühls. Wir alle scheitern, wir alle erleben schwierige Zeiten - doch anstatt uns zu isolieren, hilft uns Selbstmitgefühl, uns mit anderen verbunden zu fühlen. Gerade bei Herausforderungen wie Versagen, Verlust oder Krankheit wird diese Haltung zur Kraftquelle.



Selbstmitgefühl und Sucht


Ein Bereich, in dem Selbstmitgefühl besonders transformierend wirken kann, ist der Umgang mit Suchterkrankungen oder Substanzmissbrauch. Viele Menschen, die mit Sucht zu kämpfen haben, leiden unter starker Scham und Selbstkritik: „Ich habe mein Leben ruiniert“ oder „Ich bin ein Versager“. Solche Gedanken können den Teufelskreis von Rückfall und Selbstvorwürfen weiter anheizen.


Ein selbstmitfühlender Ansatz könnte darin bestehen, einen Rückfall als Teil des Heilungsprozesses zu sehen und sich daran zu erinnern: „Es ist schwer, eine Sucht zu überwinden, aber jeder kleine Schritt zählt“. Die Forschung zeigt, dass diese Haltung nicht nur das emotionale Leiden reduziert, sondern auch die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls verringert. Durch Selbstmitgefühl lernen Betroffene, emotionalen Schmerz zu bewältigen, ohne zu Drogen oder Alkohol zu greifen.


Ein konkretes Beispiel: In einer Suchtklinik werden oft achtsamkeitsbasierte Übungen durchgeführt, bei denen die Klienten aufgefordert werden, sich vorzustellen, wie sie einem engen Freund begegnen würden, der sich für einen Fehler schämt. Anschließend nehmen sie die gleiche Haltung gegenüber sich selbst ein. Diese Methode hilft, die Kluft zwischen Selbstkritik und Selbstunterstützung zu überbrücken.



Wissenschaftliche Belege und praktische Relevanz


Studien zeigen, dass Selbstmitgefühl nicht nur die psychische Gesundheit stärkt, sondern auch das körperliche Wohlbefinden verbessert. Menschen mit einem hohen Maß an Selbstmitgefühl sind stressresistenter, weniger anfällig für Depressionen und zeigen gesündere Bewältigungsstrategien. Ein Beispiel aus der Forschung: Eine Metaanalyse ergab, dass selbstmitfühlende Menschen nicht nur seltener an Burnout leiden, sondern auch motivierter sind, sich langfristig um ihre Ziele und ihr Wohlbefinden zu kümmern.


Ein weiteres Beispiel: In der Traumatherapie wird Selbstmitgefühl gezielt eingesetzt, um mit Scham umzugehen. Ein Kriegsveteran, der von seinen Kriegserlebnissen gezeichnet ist, kann zum Beispiel lernen, sich selbst zu beruhigen, indem er sagt: "Ich habe unter extremen Umständen gehandelt und tue jetzt mein Bestes, um Frieden zu finden.



Kritik und Herausforderung


Natürlich ist Selbstmitgefühl nicht frei von Missverständnissen. Manche Menschen glauben, es könne zu Nachlässigkeit oder Selbstmitleid führen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Selbstmitgefühl bedeutet nicht, Verantwortung zu vermeiden, sondern Herausforderungen mit einem wohlwollenden und konstruktiven Blick zu begegnen.


Ein weiteres Hindernis kann kultureller Art sein. In individualistischen Gesellschaften wie den USA und Europa wird Selbstmitgefühl oft positiv wahrgenommen, während es in kollektivistischen Kulturen als „egoistisch“ missverstanden werden kann. Diese Sichtweise kann jedoch durch gezielte Aufklärung und praktische Beispiele widerlegt werden.



Fazit: Eine Einstellung für ein erfüllteres Leben


Selbstmitgefühl ist mehr als eine Theorie - es ist eine Lebenshaltung, die uns hilft, mit uns selbst ins Reine zu kommen. Ob im Umgang mit Misserfolgen, bei der Überwindung von Süchten oder im täglichen Stress: Selbstmitgefühl ist ein wirksames Mittel, um emotionale Widerstandskraft und Heilung zu fördern.


Vielleicht können wir uns alle in schwierigen Momenten fragen: Wie würde ich eine  gute Freundin behandeln? Die Antwort auf diese Frage könnte der erste Schritt zu einem mitfühlenderen Umgang mit uns selbst sein - und damit zu einem erfüllteren Leben.