account • 14. November 2024

Alkohol - der unsichtbare Nährstoffräuber

Geschichten aus dem Alltag


In der Praxis, in der ich arbeite, sind zwei Nahrungsergänzungsmittel mit B-Vitaminen der Renner. Ich gebe sie fast ausnahmslos jedem, der mir sagt, dass er regelmäßig Alkohol trinkt, oder bei dem ich den Verdacht habe, dass er es tut. Und wer gerade mit dem Trinken aufgehört hat, bekommt sie trotzdem. Warum bin ich so pedantisch? Folgende Situation hat sich kürzlich in meiner Sprechstunde zugetragen. Ein älterer Herr klagt über zunehmende Schwierigkeiten beim Gehen. Er kann kaum noch das Gleichgewicht halten, berichtet über Taubheitsgefühle in Händen und Füßen. Vor allem im Dunkeln und beim Treppensteigen hat er Angst zu stürzen. Auf meine Frage, ob er Alkohol trinkt, antwortet er: "Ja, aber nicht viel. Zwei, drei Gläser Rotwein am Abend. Selten mehr." "Jeden Abend?" "Ja, mehr oder weniger." "Und wie lange schon?" "Seit Jahren, das hat sich so eingependelt. Aber das ist doch nicht so schlimm, oder?" Die neurologische Untersuchung bestätigt meinen Verdacht. Der Mann leidet an einer Polyneuropathie. Bei dieser Erkrankung kommt es zu Nervenschäden, meist an Händen und Füßen. Die häufigsten Ursachen sind Diabetes oder regelmäßiger Alkoholkonsum. Die Krankheit entwickelt sich meist schleichend über einen längeren Zeitraum. Die Betroffenen klagen über Missempfindungen in Händen und Füßen, Schwäche und Schmerzen sowie Gleichgewichtsstörungen. Im fortgeschrittenen Stadium stellt die Erkrankung eine massive Beeinträchtigung der Lebensqualität dar. Die Geschichte ist kein Einzelfall. Die Leberwerte des Mannes waren übrigens im grünen Bereich. Beim Hausarzt war der Alkoholkonsum nie ein Thema. Ich erkläre dem erstaunten Mann, dass wahrscheinlich der Rotwein die Ursache für seine Beschwerden ist. Aber wie kommt es dazu? 



Alkohol ist ein Nährstoffräuber


Alkohol ist ein Nährstoffräuber. Neben den bekannten Risiken wie der Schädigung der Leber und dem erhöhten Risiko für zahlreiche Krankheiten hat der regelmäßige Alkoholkonsum auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Nährstoffversorgung des menschlichen Körpers. Insbesondere die Versorgung mit B-Vitaminen und essenziellen Mineralien wird beeinträchtigt. Im Folgenden möchte ich erläutern, weshalb ich den Begriff "Nährstoffräuber" im  Kontext von Alkohol verwende und welche Konsequenzen ein dadurch ausgelöster Mangel haben kann, insbesondere für das Nervensystem und die mentale Gesundheit



Alkohol hat einen negativen Einfluss auf die Aufnahme und den Stoffwechsel zahlreicher Nährstoffe. Der Abbau von Alkohol beansprucht die Leber in hohem Maße und erfordert eine Vielzahl von Mikronährstoffen. Des Weiteren führt der Konsum von Alkohol zu einer verstärkten Ausscheidung von Nährstoffen über die Nieren, wodurch deren Verwertung in Magen und Darm behindert wird. Hierbei sind insbesondere die B-Vitamine (B1, B6, B12 und Folsäure), Magnesium, Zink und Kalium betroffen. 



Der Einfluss auf B-Vitamine und Mineralien


B-Vitamine sind für die Funktion unseres Nervensystems, den Energiestoffwechsel und die Blutbildung von essenzieller Bedeutung. Ein Mangel kann zu Müdigkeit, Konzentrationsschwäche und Reizbarkeit führen. Insbesondere die Vitamine B1 (Thiamin), B6 (Pyridoxin) und B12 (Cobalamin) sind für die Funktionalität des Nervensystems von entscheidender Bedeutung. 



Vitamin B1 (Thiamin)


Ein Thiaminmangel stellt eine häufig zu beobachtende Konsequenz chronischen Alkoholkonsums dar. Thiamin spielt eine zentrale Rolle im Energiestoffwechsel und ist von essentieller Bedeutung für die Funktion des Nervensystems. Ein Mangel kann zu einer Vielzahl neurologischer Symptome führen, darunter Koordinationsprobleme, Muskelschwäche und Gedächtnisstörungen. Eine besonders schwerwiegende Form des Thiaminmangels ist das Wernicke-Korsakoff-Syndrom, das mit schweren Gedächtnisstörungen und Verwirrtheit einhergeht. 



Vitamin B6 (Pyridoxin)


Vitamin B6 ist an der Synthese von Neurotransmittern (Botenstoffen) beteiligt, darunter Serotonin und Dopamin, welche eine wesentliche Rolle für die Stimmung und das Wohlbefinden spielen. Ein Mangel an Vitamin B6 kann zu Reizbarkeit, depressiver Verstimmung und Schwächegefühl führen. Der Konsum von Alkohol reduziert die Aufnahme und Verwertung von Vitamin B6 im Körper.



Vitamin B12 und Folsäure


Ein Mangel an Vitamin B12 (Cobalamin) kann zu Nervenschäden führen, die durch Taubheitsgefühle, Kribbeln in den Gliedmaßen und Muskelschwäche gekennzeichnet sind. Folsäure (Vitamin B9) ist wichtig für das Zellwachstum und die DNA-Bildung. Ein Folsäuremangel erhöht das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen, Depressionen und schwächt das Immunsystem. Zudem sind Vitamin B12 und Folsäure essenziell für die Blutbildung. Ein Mangel an Vitamin B12 und bzw. oder Folsäure kann eine Blutarmut zur Folge haben, welche Müdigkeit und Schwäche bedingt. 



Mineralien


Magnesium, Zink und Kalium sind für zahlreiche biochemische Prozesse essenziell. Magnesium ist beispielsweise an der Reizweiterleitung und Muskelkontraktion beteiligt, während Zink für die Zellteilung und die Funktion unseres Immunsystems von essenzieller Bedeutung ist. Der Konsum von Alkoholika kann die Speicherung und Ausscheidung dieser Mineralien beeinträchtigen, was wiederum Muskelkrämpfe, ein geschwächtes Immunsystem und eine Verschlechterung der geistigen Leistungsfähigkeit zur Folge haben kann. 



Wie viel ist zuviel?


Die Menge an Alkohol, ab der eine schädliche Wirkung zu erwarten ist, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Dazu zählen das Geschlecht, das Körpergewicht sowie die genetische Disposition. Das BAG gibt als Richtlinie für einen risikoarmen Konsum eine maximale tägliche Alkoholaufnahme von etwa 20 g für Männer und 10 g für Frauen an, wobei mindestens zwei trinkfreie Tage pro Woche einzuhalten sind. Allerdings zeigen Studien, dass schon diese Mengen über längeren Zeiträumen hinweg zur Nährstoffmängeln und deren gesundheitlichen Folgeschäden beitragen können.

Eine Studie des National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism (NIAAA) belegt, dass der regelmäßige Konsum von ein bis zwei Standardgetränken pro Tag über mehrere Jahre hinweg das Risiko für einen Mangel an B-Vitaminen und Mineralien deutlich erhöht. Dabei zeigt sich eine besonders starke Korrelation zwischen dem Konsum von Alkohol und einem Mangel an Vitamin B1, B6 und Magnesium, was sich nachteilig auf das Nervensystem auswirkt. 



Auswirkungen auf das periphere und zentrale Nervensystem


Das Nervensystem ist besonders empfindlich gegenüber den Folgen eines Nährstoffmangels durch Alkoholkonsum. Vor allem das periphere Nervensystem, das die Verbindung zwischen Gehirn und Körper herstellt, leidet unter Vitaminmangel. Symptome wie Kribbeln, Taubheit oder Schmerzen in den Extremitäten können auftreten. Dieses Krankheitsbild wird als periphere Neuropathie bezeichnet. Neben Alkohol gibt es weitere Auslöser wie Diabetes oder bestimmte Medikamente. Häufig ist es jedoch eine Folge des Alkoholkonsums. 

Auch das zentrale Nervensystem (ZNS) ist betroffen. Regelmäßiger Alkoholkonsum kann zu einer Verringerung des Gehirnvolumens führen, was Gedächtnisprobleme und kognitive Beeinträchtigungen verstärken kann. Die Kombination aus verminderter Hirnmasse und einem Mangel an Nährstoffen wie Vitamin B1 erhöht das Risiko neurodegenerativer Erkrankungen. 



Depressionen und Stimmungsschwankungen


Studien zeigen, dass ein Mangel an B-Vitaminen und Mineralstoffen das Risiko für Depressionen und Stimmungsschwankungen erhöht. So ist beispielsweise bekannt, dass Vitamin B6 und Folsäure an der Bildung von Serotonin und Dopamin beteiligt sind - Neurotransmitter, die für das emotionale Wohlbefinden und die Stimmungsregulation von entscheidender Bedeutung sind. Ein Mangel kann daher depressive Symptome verstärken oder auslösen. 

Auch ein Mangel an Vitamin B12 wird mit Stimmungsschwankungen und Depressionen in Verbindung gebracht. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass Personen mit einem Vitamin B12-Mangel häufiger unter Angstzuständen und Depressionen leiden (Tiemeier et. al. 2002). Dies gilt insbesondere für Personen, die regelmäßig Alkohol konsumieren und dadurch ein erhöhtes Risiko für einen Vitamin B12-Mangel haben.



Prävention und Therapie von alkoholbedingten Nährstoffdefiziten


Die langfristigen Folgen von alkoholbedingten Nährstoffdefiziten können schwerwiegend sein und nicht nur das Nervensystem betreffen, sondern auch die mentale Gesundheit und die allgemeine körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Um diesen Risiken vorzubeugen, ist es ratsam, den Alkoholkonsum auf ein Minimum zu beschränken, regelmässiges Trinken zu vermeiden und auf eine ausgewogene Ernährung zu achten, die reich an B-Vitaminen, Mineralstoffen ist. Wer trotzdem regelmässig Alkohol trinkt, dem empfehle ich zusätzlich ein Nahrungsergänzungsmittel mit einem Vitamin-B Komplex einzunehmen.